Systemtheorie in der Praxis

Warum eine systemtheoretische Haltung gerade in dynamischen Zeiten ein wertvoller Vorteil sein kann

Insbesondere Geisteswissenschaftlern werden Luhmann und die Systemtheorie aus Studienzeiten noch ein Begriff sein. Während die Systemtheorie in der Uni meist als eher trockene Theorie mit wenig Anwendbarkeit in der Praxis wahrgenommen wurde, bietet eine systemische Haltung im unternehmerischen Alltag tatsächlich enorme Vorteile – gerade in dynamischen Zeiten wie diesen.

1. Seien Sie sich darüber im Klaren, dass Sie über blinde Flecke verfügen

Zukunftsorientierung

Eine Organisation kann nicht alles, was um sie herum geschieht, wahr- und aufnehmen. Sie muss zwangsläufig selektieren. Hierzu bilden Organisationen automatisch Beobachtungs- und Bewertungsraster aus, die ihre Wahrnehmung auf Basis von organisationsspezifischen Kriterien strukturieren und organisieren. Diese Raster sind in der Regel jedoch nur implizit vorhanden, die Unterscheidungsprozesse laufen demnach unbewusst ab. Daraus folgt: „Organisationen sehen nur das, was sie sehen. Sie sehen nicht, was sie nicht sehen.“

Damit geht ein gefährlicher Selbstbestätigungsprozess einher.

Auf der einen Seite wird wiederholt, was in der Vergangenheit gut funktioniert hat. Erfolgreiche Erklärungs- und Deutungsmuster werden beibehalten und verstärken sich zunehmend zu Grundüberzeugungen, die kaum noch zu erschüttern sind – unabhängig davon, ob die Umwelt inzwischen andere Kriterien erfordert.

Auf der anderen Seite werden abweichende Beobachtungen zumeist nicht als solche wahrgenommen und so lange „umgedeutet“, bis sie in das gewohnte Schema passen. Statt sie als Signal für eine Veränderung zu betrachten, gleicht man sie an das Gewohnte an.

Organisationen nehmen also nur wahr, was sich ohnehin auf ihrem Radarschirm befindet – bis sich irgendwann der sogenannte „Schwarze Schwan“ zeigt: ein Ereignis, das bis zu seinem Eintreten für unrealistisch bis unmöglich gehalten wurde und die Organisation somit zwingt, sich ihrer blinden Flecke bewusst zu werden.

Für Sie bedeutet das: Bedenken Sie, dass Sie nicht alles sehen – und mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht sehen, dass Sie etwas nicht sehen. Auch Sie verfügen über blinde Flecke.

2. Erweitern Sie Ihre Denkräume, um blinden Flecken entgegenzuwirken

Sind Sie sich der Tatsache bewusst, dass sich einzelne Chancen und Herausforderungen Ihrer Beobachtung entziehen, können Sie der davon ausgehenden Gefahr entgegenwirken – indem Sie Ihre Denkräume erweitern.

Externe Impulse und Denkanstöße sind eine gute Möglichkeit, um die eigenen blinden Flecke zu identifizieren und über den sprichwörtlichen Tellerrand hinauszublicken.

Auch wenn die Teilnahme an Workshops und Networking-Veranstaltungen aufgrund der derzeitigen Situation schwierig ist, gibt es inzwischen zahlreiche Webinare und andere Möglichkeiten zum digitalen Austausch, die diesen Zweck – bis auf den Plausch an der Kaffeemaschine – ebenfalls sehr gut erfüllen.

Brainstorming

3. Achtung, jetzt wird es theoretisch: Beobachtung zweiter Ordnung – schauen Sie auf die Brille, durch die Sie blicken, und justieren Sie nach

Systemtheorie in der Praxis - Blick auf die Brille

Beobachtungs­raster:

Welche Dimensionen werden beobachtet, welche nicht? Welche Aspekte innerhalb einer Beobachtungsdimension sind interessant? Beispiele hierfür sind Marktentwicklungen, die Wettbewerber oder auch die Mitarbeiter.

Bewertungs­raster:

Anhand welcher Kriterien bewerte ich, ob ich eine Beobachtung als relevant einschätze? Entsprechen die Marktentwicklungen z. B. den Erwartungen oder nicht? Wird der Wettbewerber als fähig eingeschätzt, mit den eigenen Innovationen mitzuhalten oder nicht?

Eine weitere Maßnahme, die den blinden Flecken entgegenwirkt, ist die sogenannte Beobachtung zweiter Ordnung. Nehmen Sie regelmäßig eine Meta-Perspektive ein und reflektieren Sie, wie Sie Handlungen und Arbeitsweisen Ihrer Organisation und Entwicklungen in Ihrer Umwelt beobachten und bewerten und wie Ihre Organisation Unterscheidungen vornimmt.

Wie diese Raster jeweils ausgestaltet sind, hängt stark von der jeweiligen Organisation ab, da sie maßgeblich von der Identität und dem Selbstverständnis über Ziele und Zweck der Organisation bestimmt werden. Ein Krankenhaus erachtet beispielsweise vollkommen andere Informationen als relevant als etwa eine Bank es tut und arbeitet daher auch mit ganz anderen Unterscheidungen und Kriterien.

Ein Beispiel dafür, wie sich Beobachtungs- und Bewertungsraster im Zeitverlauf ändern, sind ökologische Fragestellungen. Seit sich die öffentliche Sensibilität und das Käuferverhalten verändert haben, das Umweltbewusstsein eines Unternehmens Auswirkungen auf das Image hat und Umweltschädigung finanzielle Nachteile bedeuten kann, finden entsprechende Kriterien zunehmend Berücksichtigung in der Entscheidungsfindung.

Stellen Sie die Kriterien, die in den alltäglichen Operationen meist unsichtbar bleiben, daher regelmäßig auf den Prüfstand und arbeiten Sie die impliziten Beobachtungs- und Bewertungsraster Ihrer Organisation sowie Ihre eigenen explizit heraus:

Prüfen Sie, welche Unterscheidungen Sie in der Informationsgewinnung nutzen.

  • Wie erklären Sie sich Ihre Realität?
  • Was sehen Sie aufgrund Ihrer Unterscheidungen nicht?
  • Welche Handlungsoptionen ermöglichen Ihnen Ihre Unterscheidungskriterien und Erklärungsmuster, welche sind dadurch versperrt?
  • Wie erkennen und definieren Sie Probleme und ist diese Art und Weise daran beteiligt, dass diese Probleme überhaupt erst entstehen?

Fragen wie diese machen die implizit vorhandenen Raster explizit und somit bearbeitbar. Wenn Sie die Brille kennen, durch die Sie schauen, erkennen Sie auch, was sie damit nicht sehen. Wenn Sie wissen, was Sie nicht sehen, gibt Ihnen das die Möglichkeit, Ihre Raster anzupassen und Ihre blinden Flecken zu verringern.

4. Hypothesen­basiertes Arbeiten – die Zukunft ist und bleibt grundsätzlich unsicher

Niemand weiß, was kommt; die Zukunft ist und bleibt grundsätzlich unsicher. Zur Herstellung von Entscheidungsfähigkeit gibt es daher nur die Möglichkeit, nach bestem Wissen und Gewissen Annahmen zu treffen und darauf basierend nicht nur Strategien und Zukunftsbilder zu erarbeiten, sondern auch Folgeentscheidungen darauf aufzubauen.

Beim Treffen dieser Annahmen ist es wichtig, unterschiedliche Perspektiven einfließen zu lassen und das vorhandene Wissen in der Organisation, die sogenannte Systemintelligenz, zu nutzen.

Systemintelligenz:

Jeder Organisation stehen Wissen, Erfahrungen und Einschätzungen intern und extern zur Verfügung. Um dies organisational nutzen zu können, müssen Perspektiven und Expertisen so vernetzt werden, dass diese explizit in den laufenden Entwicklungs-/Arbeitsprozess eingespeist, diskutiert und ausgewertet werden.

Über die Kombination unterschiedlicher Perspektiven und das Bündeln des vorhandenen Wissens, Erfahrungen und Einschätzungen, entstehen Lösungen, die es vorher noch nicht gab.

Es besteht eine sachbezogene Problemlage, die nicht durch eine einzelne Person oder eine einzige Perspektive/Expertise gelöst werden kann, sondern für deren tragfähige/belastbare Lösung es die Vernetzung unterschiedlicher Perspektiven Expertisen etc. bedarf/braucht.

Wenn eine Organisation es zulässt und auch systematisch plant Perspektiven und Expertisen intern und extern zusammenzuführen, um den Diskurs und die Bündelung gezielt zu fördern, sprechen wir davon, dass eine Organisation die vorhandene Systemintelligenz nutzt.

5. Erkenntnisgewinne in den laufenden Prozess verarbeiten

Wurden Annahmen über die Zukunft getroffen, gilt es jedoch, die aktuellen Entwicklungen ständig im Blick zu behalten und die neuen Beobachtungen und Erkenntnisgewinne in die bestehenden Prozesse zu integrieren. Die Unsicherheit auf allen Seiten erfordert agiles Arbeiten mit kleinen Schritten, regelmäßigen Abstimmungen und Reflexionen. Eine solche vorausschauende Arbeitsweise kann insbesondere im Krisenfall einen großen Zeitgewinn bedeuten.

6. Dazu gehören: Der Mut und die Bereitschaft zur Kurskorrektur

Halten Sie nicht auf Biegen und Brechen an bereits getroffenen Entscheidungen fest. Gerade in Zeiten wie diesen sind die zukünftigen Entwicklungen nur mit großer Unsicherheit zu prognostizieren. Gehen Sie daher immer davon aus, dass der Wissensstand morgen ein anderer sein kann und dass es zur heute getroffenen Entscheidung morgen vielleicht eine bessere Alternative gibt. Bei unserer Kommunikation sollten wir die Irrtumswahrscheinlichkeit immer mitkommunizieren, das hilft uns bei der Korrektur. Wenn sich andere Wege als geeigneter und erfolgversprechender herausstellen, bleiben Sie nicht auf dem Holzweg, sondern haben Sie den Mut, Ihren Kurs zu korrigieren.

Navigieren im Change

7. Für hartgesottene Freunde der Systemtheorie: Variation – Selektion – Restabilisierung

Das gezielte Einspeisen von Impulsen sorgt für Irritation, eröffnet neue Denkräume und leuchtet blinde Flecke aus. Derartige Variation gezielt zu generieren, sichert der Organisation mögliche Handlungsoptionen. Es gibt organisationale Sicherheit, mehr Optionen zu haben als man verwerten kann – denn müssen eingeschlagene Wege aufgegeben werden, stehen neue schon zur Verfügung.

Organisationen neigen dazu, an dem Altbewährten festzuhalten und das Neue und Unbekannte herauszuselektieren. Daher ist Selektion ein sehr anspruchsvoller Prozess, der managerial zu begleiten und prozessual klug zu organisieren ist. Kritisch reflektierende Beobachtungs- und Bewertungsraster und interdisziplinäre und hierarchieübergreifende Entscheidungsgremien helfen, bei der Selektion auch das Neue zu ermöglichen.

Wurde entschieden, fängt die Umsetzung bzw. Implementierung an. Bis zum Schluss können sich Organisationen gegen das Neue wehren und versuchen, etablierte Routinen auf Gedeih und Verderb zu erhalten. Hier sind Lernarchitekturen gefragt, die organisationales und personales Lernen verzahnen und die Nicht-Trivialität von Organisationen berücksichtigen.

8. Jetzt wird es erneut etwas anspruchsvoller: Beachten Sie den Unterschied zwischen „kompliziert“ und „komplex“:

Sie haben bestimmt schon häufiger festgestellt, dass Maßnahmen, die Sie beispielsweise zur Förderung bestimmter Verhaltens- oder Arbeitsweisen ergreifen, nicht immer das gewünschte Ergebnis erzielen. Ein möglicher Grund dafür könnte der Unterschied zwischen komplizierten und komplexen Prozessen sein:

Um beispielsweise ein Raumschiff bis ins kleinste Detail zu verstehen, bedarf es jahrelangen Studierens. Dennoch ist am Ende klar: Das Raumschiff wird abheben – sofern alles richtig verbaut ist, jede Schraube an ihrem Platz ist, das korrekte Material verwendet wurde, die Wetterbedingungen stimmen und, und, und. Maschinen (triviale Systeme) folgen in ihrer Funktionsweise physikalisch und technologisch erklärbaren Ursache-Wirkung-Beziehungen und wenn etwas nicht planmäßig funktioniert, hat das, von einer lockeren Schraube bis hin zu einer komplizierten Verkettung unterschiedlicher Defekte, einen einfachen bis komplizierten Grund.

Kommen Menschen und Entscheidungen ins Spiel, sieht es jedoch ganz anders aus.

Strategieberatung zur Strategieentwicklung

Betrachten wir ein Fußballspiel (nicht-triviales System). 22 Individuen auf einem Platz, die zwar vordergründig dasselbe Ziel verfolgen, dabei aber immer wieder Entscheidungen treffen müssen, die sich aus der Situation heraus ergeben. Soll ich jetzt die Lücke in der Verteidigung nutzen oder steht mein Mitspieler in einem besseren Winkel zum Tor? Spiele ich rechts oder links an meinem Gegenüber vorbei? Der renommierteste Fußballexperte wäre nicht in der Lage vorhersagen, welche Entscheidungen die Spieler jeweils in diesen Situationen treffen, wer wann ein Tor schießt und wie das Spiel letztlich ausgeht.

Organisationen sind dabei eher mit Fußballspielen als mit Maschinen zu vergleichen. Zwar erfüllt jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin eine bestimmte Funktion, wie es z. B. auch bei einer Schraube in einer Maschine der Fall ist, jedoch laufen in den Köpfen (Psychen) der Menschen komplexe Prozesse ab – von der Interpretation von Situationen und Aufgabenstellungen über die Sinnzuschreibung wahrgenommener Situationen bis hin zu dem Motiv, persönliche Ziele realisieren zu wollen. Diese komplexen Prozesse und sozialen Dynamiken machen es schwierig bis unmöglich, die Handlungen und die damit verbundenen Auswirkungen vorherzusagen. Unterschätzen Sie daher nicht die Komplexität organisationaler Phänomene und die Bedeutung sozialer Dynamiken. Werden Sie skeptisch, wenn Ihnen gut gemeinte Ratgeber trivialisierende Lösungen und Maßnahmen zur Zielerreichung vorschlagen, um notwendige organisationale Veränderungen zu bewirken.

9. Warum Unsicherheit unternehmerisches Handeln überhaupt erst ermöglicht

Strategieberatung S&P Consulting

Während die Unsicherheit über die Zukunft, dynamische Entwicklungen und die mangelnde Planbarkeit oftmals bedauert werden, stellt diese Unsicherheit tatsächlich die Grundvoraussetzung für unternehmerisches Handeln dar.

Stellen Sie sich vor, Sie wüssten genau, wie sich die Märkte, die gesellschaftlichen Bedürfnisse und das Kundenverhalten in den kommenden Monaten und Jahren entwickeln – klingt verlockend? Stellen Sie sich nun vor, dass all Ihre Wettbewerber über dieselben Informationen verfügen. Wie verschaffen Sie sich noch einen Wettbewerbsvorteil? Wie heben Sie sich von der Konkurrenz ab?

Die Tatsache, dass all diese Informationen nicht mit Sicherheit vorliegen, sondern Entscheidungen auf Basis von Annahmen getroffen werden, ermöglicht es erst, Trends und Entwicklungen vor allen anderen zu erkennen. Erfolgreich ist, wer am Markt oder in der Gesellschaft Bedürfnisse und Problemstellungen entdeckt, für die es derzeit noch keine guten Lösungen gibt, und kluge Antworten darauf findet.

Betrachten Sie Unsicherheit als Quelle unternehmerischen Tuns und als Chance, Ihr Umfeld aktiv durch innovative und überraschende Lösungen mitzugestalten.

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    Unsere Beratungsleistungen basieren auf den Erkenntnissen der systemischen Organisationstheorie. Entsprechend sehen wir nicht in erster Linie die Menschen in einer Organisation als wesentliche Ansatzpunkte für Interventionen, sondern die etablierten Beobachtungs- und Bewertungsraster sowie die charakteristischen Kommunikationsroutinen.

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